Internationales Graduiertenkolleg zu Wendepunkten im Ostseeraum entsteht an der Universität Greifswald

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) wird die Einrichtung des neuen internationalen Graduiertenkollegs „Ostsee-Peripetien. Reformationen, Revolutionen, Katastrophen“ an der Universität Greifswald fördern. Sprecher des Kollegs ist Prof. Dr. Eckhard Schumacher von der Universität Greifswald. Kooperationspartner sind die University of Tartu in Estland und die Norwegian University of Science and Technology in Norwegen. Das Graduiertenkolleg soll die Arbeit im April 2021 aufnehmen. Insgesamt stehen etwas über 4 Millionen Euro für zunächst viereinhalb Jahre zur Verfügung.

Der Begriff Peripetie bezeichnet in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Kategorie der narrativen Sinnbildung. Er wird erstmals in Aristoteles’ Poetik verwendet und beschreibt den Wendepunkt in einer Geschichte, das Ereignis also, in dem deutlich wird, dass das, was in der Welt der Erzählung erwartet wird, anders als zunächst erwartet eintreten wird. Der Ausdruck kann als neutraler Sammelbegriff für Wendepunkte aller Art stehen, für Revolutionen, Reformationen, Katastrophen, dramatische Ereignisse oder tipping points, also Momente, in denen eine geradlinige, scheinbar unveränderbare Entwicklung überraschend und unumkehrbar abbricht und eine neue Wendung nimmt.

Im internationalen Graduiertenkolleg soll mit Hilfe des Peripetie-Begriffs untersucht werden, wie sich die Vorstellung des Ostseeraums in Erzählungen und Erzählweisen konstituiert, die durch spezifische Ereignisse, Wendepunkte oder auch Katastrophen geprägt sind. Solch ein Ereignis mit unerwarteten Konsequenzen war etwa der Fall des Eisernen Vorhangs. „Solche Wendepunkte sind nicht nur für literarische oder filmische Erzählungen relevant, sie bestimmen auch die Wahrnehmung von historischen Ereignissen, den politischen Diskurs und die Alltagssprache“, so Prof. Eckhard Schumacher, Sprecher des Kollegs.

Ziel des Graduiertenkollegs ist es, die Rolle von Erzählungen und Ereigniskonstruktionen für Wahrnehmung des Ostseeraums in den Fokus der Ostseeraumforschung zu rücken. Hierbei geht es weniger um die Wiederbelebung einer Ereignisgeschichte, als um die Hinwendung zum flexibleren Forschungsansatz des narrative turn, der das Erzählen als anthropologische Grundlage für die Aneignung der Welt durch den Menschen versteht.

Sowohl fiktionale als auch faktuale, beschreibende Texte produzieren Sinn durch das Herauslösen eines einzelnen Ereignisses aus einem per se unabschließbaren Strom von Geschehnissen. Diese Umwertung eines Geschehnisses zu einem Ereignis mit Wendecharakter bildet das Zentrum eines plots mit einem definitiven Anfang bei dem es um die Frage „Was führt zu dem Ereignis?“ und einem definitiven Ende mit der Frage „Welche Konsequenzen hat das Ereignis?“ führt. Die Wahl der Peripetie beeinflusst deshalb unsere individuelle und kollektive Wahrnehmung der Welt und unsere Argumentation, wie in dieser Welt zu handeln sei. Die Peripetie prägt je nach Konstruktion politische Überzeugungen und soziales Handeln, wirtschaftliche Entscheidungen, ökologische und kulturelle Bedeutungsrahmen. Sie ist der Schlüssel zur Herstellung von Sinnhaftigkeit und zur Erfahrbarkeit der Welt.

Auf dieser methodologischen Basis soll das Projekt den Ostseeraum auf seine narrative Konstitution hin untersuchen: Welche historisch relevant gewordenen Peripetien bestimmten und bestimmen die Wahrnehmung des Ostseeraums? Wie kann man ihre Wirkmächtigkeit auf die soziale, kulturelle, politische, ökologische und ökonomische Gegenwart und Zukunft des Ostseeraums beschreiben? Existieren verschiedene Peripetien mit je eigenen Effekten nebeneinander? Falls ja, interagieren sie, stehen sie in Konkurrenz zueinander, oder schließen sie sich aus? Und wie muss man das narratologische Konzept der Peripetie weiterentwickeln, um es für Regionalstudien fruchtbar zu machen?

Das Graduiertenkolleg führt verschiedene geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen zusammen, verbindet die Literatur- und Sprachwissenschaften mit der Geschichtswissenschaft, der Philosophie sowie der Politikwissenschaft und verankert diesen interdisziplinären Verbund durch die Kooperation mit den Partneruniversitäten Trondheim und Tartu zugleich in der internationalen Diskussion. Als Verbund für Dissertationsprojekte, die sich mit den „Kulturen des Ostseeraums“ vom Mittelalter bis zur Gegenwart befassen, stärkt das Graduiertenkolleg den gleichnamigen universitären Schwerpunkt und die vielfältigen Initiativen zur Ostseeraumforschung an der Universität Greifswald.

Partneruniversitäten:
- University of Tartu, Tartu, Estland
- Norwegian University of Science and Technology, Trondheim, Norwegen

Link zur Presseinformation der DFG

Quelle:Auszug aus der Medieninformation der Pressestelle der Universität Greifswald vom 13. Juli 2020